Jom Kippur
- swirth8
- 29. Sept. 2017
- 2 Min. Lesezeit

Alles ist still. Ich sitze auf einem Grünstreifen auf der Sokolov Street, der Hauptader Ramat HaSharons. Nicht still im Sinne von geräuschlos. Kinder rufen sich auf Hebräisch zu, während sie mitten auf den leeren Straßen Wettrennen zu Fahrrad fahren, Jugendliche sitzen in Kreisen zusammen. Eine Mädelsgruppe kommt zu mir und fragt mich „Ata chotev schir?“ und dann auf Englisch „Do you write a song for your love?“* Eine aufgeladene Stimmung liegt in der Luft und die meisten tragen weiß, viele einfach ein weißes T-shirt. Alles ist still. Keine Autos, keine offenen Kiosks, die Festbeleuchtung über mir ist aus. Mit Einbruch der Dunkelheit hat heute Abend Jom Kippur begonnen, der höchste Feiertag der Juden, der Tag der Versöhnung. Er bildet den Höhepunkt der ehefurchtsamen Tage, wie schon einmal gesagt, die Zeit, in der Gott das Buch des Lebens öffnet und entscheidet über Schicksale und schon mal vorsortiert nach Gut, Böse und Mittel für den irgendwann eintretenden Tag des Gerichts. Es ist eine Zeit, in der jeder noch schnell seinen Mitmenschen vergeben und um die Vergebung der Sünden beten kann. Man könnte sagen, am Jom Kippur ist der der große Last-Minute-Sündenvergebungs-Sale und gläubige Juden fasten, verzichten auf Arbeit, zum Beispiel, indem sie das Klopapier schon einen Tag vorher reißen und beten, bestenfalls in der Synagoge. Eher säkulare Juden machen sich manchmal Gedanken über das Leben, was ist, was kommt…
Zum Gebet Kol Nidre, dem Gebet zum Anfang vom Jom Kippur, waren auch Anna, Max und ich in der Synagoge - ich zum ersten Mal in meinem Leben. Nachdem Anna sich von uns trennte, um mit den Frauen auf die Empore zu gehen und Max und ich Kippas gefunden hatten, betraten wir das wie bei den Christen am Heiligabend gefüllte Gotteshaus - in weiße Hemden gekleidet oder in weiße Gewänder, bedeckt mit Kippas und Gebetstüchern - außerdem in Joggingschuhen und Crocs (denn heute darf kein Leder getragen werden). Ich hätte gerne mehr von dem Inhalt der Texte und Gebete verstanden oder welche Willkommensworte der weißbärtige Rabbi uns wohl zu gemunkelt hat, als er, während er die Torarollen durch die Gemeinde getragen hat, die von allen geküsst wurden, uns als Fremde identifiziert hat und sogleich feste an sich und an die Tora gedrückt hat. Aber es war trotzdem faszinierend, zu sehen und zu hören, wie um Vergebung gebetet wurde - zweieinhalb Stunden lang wechselten sich ergreifende uralt klingende Gesänge des Vorsängers oder der Gemeinde ab mit Gebeten, die teils laut, teils jeder für sich gelesen wurden und manchmal sogar mit einem Wiegen des Oberkörpers begleitet wurde, das Max und mich beide an friends im Kfar denken lassen hat. Auch wenn sowohl in der Synagoge als auch jetzt auf der Straße eine aufgeladene Stimmung herrscht, steht -finde ich- das Leben gerade still; auch in meinem Kopf ein bisschen. Mir sind viele Fragen in den Kopf gekommen heute, über Israel, über das Judentum, darüber, welche Gedanken einem so in schuldgeladene Konfliktgefüge verstrickten Land wohl an diesem weißen sollen Versöhnungstag kommen, was ein guter erster Satz für diesem Blogeintrag sein könnte…
Übrigens: Der Begriff „Sündenbock“ stammt von einer alten Tradition am Jom Kippur, bei der ein Widder von Jerusalem aus beladen mit den Sünden der Menschen in die Wüste gejagt wurde.
*Schreibst du ein Liebeslied?

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